Der erste Allrad-Personenwagen der Welt feiert 100. Geburtstag
Der „Dernburg-Wagen“ der Daimler-Motoren-Gesellschaft von 1907
hatte Allradantrieb und sogar eine Allradlenkung. Eine
faszinierende Geschichte von der Leistungsfähigkeit eines
Allradwagens vor 100 Jahren ...
09.01.2007
Das erste Personenfahrzeug mit Allradantrieb
für den Alltagsbetrieb konstruierte die
Daimler-Motoren-Gesellschaft schon im Jahr 1907. Der
sogenannte „Dernburg-Wagen“, benannt nach dem damaligen
Staatssekretär Bernhard Dernburg, hatte sogar eine
Allradlenkung. Er war es, der mit ihm im Jahre 1908 in Afrika
viele Kilometer zurückgelegt hat.
Das Reichskolonialamt weiß zu Beginn des vergangenen
Jahrhunderts bei der Bestellung genau, was es von der
Daimler-Motoren-Gesellschaft erwartet: Ein zuverlässiges
Fahrzeug, das auch schlechte und lange Wegstrecken klaglos
bewältigen kann und mit dem man so flexibel ist, wie man es
bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts von einem
Automobil kennt. Der Ingenieur Paul Daimler, Sohn des
Firmengründers, ist federführend bei der Konstruktion des
gewünschten Fahrzeugs, das 1907 im Werk Berlin-Marienfelde
schließlich als Einzelstück entsteht. Das Allradautomobil
basiert auf einem Lastwagen-Chassis der DMG, es hat einen
Radstand von vier Metern und eine Spurweite von 1,42
Meter. Die Bodenfreiheit von 32 Zentimeter ist für
damalige Verhältnisse nicht ungewöhnlich groß, sind doch fast
alle Automobile häufig auf stark ausgefahrenen Straßen
unterwegs. Die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ (AAZ)
kommentiert 1908 die Daimler-Konstruktion: „Alle höheren
Weghindernisse werden von der stabilen Vorder- bzw. Hinterachse
beseitigt, und um das am meisten gefährdete
Getriebskasten-Unterteil legt sich zwischen die gepressten
Rahmentraversen ein widerstandsfähiger Stahlpanzer, stark genug,
um den ganzen Rahmen aufsetzen zu lassen.“
Das Fahrzeug wird schließlich 34.750 Mark kosten. Es
trägt eine Tourenwagen-Karosserie mit zwei Plätzen auf
der Chauffeursbank und insgesamt vier Sitzplätzen im
Fond. Türen gibt es nur für die Fondpassagiere. Großzügige
Trittstufen lassen die Einstiegshöhe von rund einem Meter
erklimmen. Auf acht Pfosten ist ein Sonnendach fixiert,
das vorn fast bis zur Fahrzeugfront reicht, damit der Fahrer
auch bei sehr tief stehender Sonne nicht geblendet wird. Hinten
am Fahrzeug ist eine Gepäckbrücke für Koffer oder
Ersatzräder angebracht. Auf dem Dach: Ein weiterer großer
Gepäckträger, geschützt von einer Plane. Rechts und links
unterhalb des Daches sind Zeltplanen befestigt, die
heruntergelassen werden können und so den Aufbau schließen, um
die Passagiere gegen Wind, Wetter und Sand zu schützen.
„Gewiss, es ist kein Mercedes, der durch leichte und elegante
Bauart auffällt; ihm sind die Zeichen von Kraft und Ausdauer
auch äußerlich aufgeprägt“, schreibt die AAZ, dennoch: „Der
Gesamteindruck des Fahrzeugs hat durch die besonderen
Anforderungen keine Einbuße erlitten.“
Der stattliche Wagen wiegt bei einer Länge von ungefähr
4,90 Meter und einer Höhe inklusive Dach von gut
2,70 Meter rund 3,6 Tonnen, einschließlich aller
vom Kolonialamt ausdrücklich gewünschten Besonderheiten,
beispielsweise eine besonders schwere Kupplung, sowie einem auf
tropische Verhältnisse abgestimmten Benzin- und
Kühlwasservorrat, Ersatzteilen und Werkzeugen.
Doch der Vierzylindermotor schlägt sich wacker, aus rund
6,8 Liter Hubraum liefert er bei 800 U/min die durchaus
ansehnliche Leistung von 35 PS (26 kW), was auf ebener
Asphaltstrecke immerhin für eine Höchstgeschwindigkeit von
rund 40 km/h gut ist. Wichtiger jedoch für das Fahrzeug mit
seinem besonderen Einsatzgebiet ist die enorme Steigfähigkeit
mit Hilfe des Allradantriebs: Sie beträgt 25 Prozent.
Das Fahrzeug hat einen permanenten Allradantrieb, der
Motor schickt seine Kraft über eine ausgeklügelte Mechanik an
die vier Räder. Eine Welle verbindet ihn mit dem genau mittig
montierten Getriebe, das vier Vorwärtsgänge und einen
Rückwärtsgang bietet. Von dort übertragen Kardanwellen die
Drehbewegung an die Differenziale der Vorder- und Hinterachse,
die sie wiederum per Kegelradkombinationen aufteilen und zu den
Rädern schicken.
Besondere Vorkehrungen trifft der Konstrukteur Paul Daimler, um
feinen Flugsand aus den kraftübertragenden Teilen zu
halten. An vielen Gelenken drängt bereits die Fettschmierung von
innen heraus den Sand zurück und bewahrt vor schneller
Abnutzung. Eine Herausforderung stellt jedoch die Vorderachse
dar: Der sonst übliche Schutz der Kegelräder in den Laufrädern,
der teleskopartig dem Lenkeinschlag folgt, kann wegen der zu
erwartenden starken Erschütterungen und wegen des feinen
Flugsands nicht verwendet werden. Daimler hüllt die
empfindlichen Teile mit Hilfe einer stabilen, zylindrischen
Schale ein. Da diese Lösung jedoch den Lenkeinschlag stark
einschränkt, auf höchstens 23 Grad, erhält das Fahrzeug auch
hinten gelenkte Räder, um einen adäquaten Wendekreis zu
erzielen. Auch die Hinterräder erhalten die Kapselung gegen
Flugsand. Ein Nebeneffekt: Vorder- und Hinterachse sind mit fast
allen Komponenten einschließlich der Differenziale, Räder und
Bremsen identisch aufgebaut, was die Ersatzteilvorhaltung
entschieden vereinfacht.
Auch die geschlossenen Felgen aus Stahlblech dienen dem
Schutz der Mechanik und der Trommelbremsen gegen
Verschmutzung – üblich sind damals Holz- und (seltener)
Stahlspeichenfelgen, die aber Sand an die Antriebskomponenten
gelassen hätten. Außerdem ist es bei Speichenfelgen nahezu
unmöglich, sich aus eigener Kraft zu befreien, wenn man einmal
im Sand versunken sein sollte. Die Stahlblechfelgen tragen
Luftreifen („Pneumatiks“) der Dimension 930 x 125,
was als weitere Besonderheit gelten darf, denn zu jener Zeit
sind Vollgummireifen noch weit verbreitet. Vermutlich hat
Paul Daimler sich zu dieser Wahl entschlossen, um bei dem hohen
Fahrzeuggewicht die Arbeit der robusten Blattfedern zu
unterstützen. Wie damals durchaus nicht selten haben nur die
Hinterreifen ein Profil, während die Vorderreifen eine glatte
Lauffläche zeigen. Die Ventile der Luftreifen befinden sich auf
der Felgeninnenseite, damit sie nicht so schnell beschädigt
werden können.
Die Motorkühlung ist speziell auf das Tropenklima
ausgelegt, unter anderem mit einer größeren Kühlfläche, einem
vergrößerten Kühlmantel um die Zylinder und mit insgesamt mehr
Kühlwasser – alles in allem sind 140 Liter im Umlauf.
Zusätzlich zum Kühler an der Fahrzeugfront ist an der Spritzwand
ein weiterer Kühler montiert, der sie hufeisenförmig umfasst und
auf diese Weise seine Waben in den Fahrtwind streckt. Beide
Kühler sind über zwei seitlich angeordnete Wasserbehälter
miteinander verbunden, und das erwärmte Wasser muss alle
Leitungen und Tanks passieren, ehe es wieder die Zylinder
umströmt. „Die Kühlung hat sich selbst im tiefen Sand bei nur 8
km/h während eines einstündigen Dauerversuchs vorzüglich
bewährt“, schreibt die AAZ.
Eine aufwändige Erprobung des Kolonialwagens über 1677
Kilometer findet Ende März/Anfang April 1908 in Deutschland
statt. Die Strecke führt von Berlin-Marienfelde nach
Stuttgart-Untertürkheim und zurück. Untertürkheim wird am
Vormittag des vierten Tages erreicht, nach weitere vier Tagen
ist das Fahrzeug wieder in Marienfelde. Dabei legt es auch
Strecke abseits befestigter Straßen zurück, um den Allradantrieb
zu testen.
„Eine Schwenkung [Kurve] in tiefem Sturzacker mit einer Steigung
von fünf bis zehn Prozent wurde tadellos ausgeführt“, heißt es
in einem internen Bericht des Kolonialamts. „In der Nähe von
Wittenberg wurde in eine Sandgrube eingefahren, in der der Wagen
bis reichlich an die Achsen in den Sand einsank, aus dem es sich
aber bei Steigungen von 20 und 21 Prozent leicht wieder
freimachte.“ Im Thüringer Wald „wurde eine etwa 150 Kilometer
hohe Anhöhe auf steinigen, stark gewundenen, schmalen Straßen
mit Steigungen bis zu 20 Prozent ohne Schwierigkeiten erstiegen.
Selbst die an sich infolge des Vierräder-Antriebes schwerfällige
Lenkung bewährte sich“.Das Abnahmeprotokoll des Kolonialamts
fällt positiv aus.
Im Mai 1908 wird das Fahrzeug mit dem Dampfer „Kedive“ nach
Swakopmund in Afrika verschifft. Im Juni steht es in
Deutsch-Südwest-Afrika dem Staatssekretär des Reichskolonialamts,
Bernhard Dernburg (1865 bis 1937), zur Verfügung. Er hat
die Aufgabe, das Verhältnis der Kolonien mit dem Mutterland zu
koordinieren und zu verbessern. Aufgrund seiner Fahrten bekommt
das Allrad-Automobil viele Jahre später den Beinamen „Dernburg-Wagen“.
Gleichzeitig dienen die Touren generell der Erprobung des
Automobils als Fortbewegungsmittel in der Kolonie.
In einem zeitgenössischen Reisebericht heißt es über eine Etappe
der Dernburg-Fahrt: „Die 600 Kilometer lange Strecke von
Keetmanshoop über Berseba nach Gibeon und dann von Maltahöhe,
Rehoboth nach Windhuk wurde in vier Reisetagen ohne Unfall
zurückgelegt. Das ist eine enorme Zeitersparnis, denn für die
gleiche Strecke braucht ein geübter Reiter zu Pferde zwölf Tage
[…].“ Dabei kann der Staatsbeamte sogar auf ein mobiles
Kommunikationsmittel zurückgreifen: „Als [das Auto] den
Staatssekretär Dernburg trug, führte es noch einen
Feldfernsprecher mit, der überall unterwegs an die
Telegraphenleitung angeschlossen werden konnte.“
Nach dieser Reise steht das Fahrzeug in
Deutsch-Südwest-Afrika der Landespolizei als ständiges
Fortbewegungsmittel zur Verfügung. Es existiert ein genaues
Fahrtenbuch, so werden beispielsweise bis Anfang 1910 rund
10.000 Kilometer zurückgelegt.
Dennoch verlaufen die Fahrten keinesfalls so reibungslos, wie
sich alle Beteiligten sicherlich erhoffen. Denn das hohe
Fahrzeuggewicht, zu einem guten Teil in den besonderen
Anforderungen des Kolonialamts an die Fahrzeugeigenschaften
begründet, belastet die Luftreifen sehr stark, so dass sie unter
der Beanspruchung auch unwegsamer Strecken nur eine
vergleichsweise geringe Lebensdauer haben – 36 Reifen und 27
Schläuche sind es während der erwähnten 10 000 Kilometer bis
Anfang 1910. Versuche mit Vollgummireifen verlaufen negativ, da
dann eine zu große Kraft auf die Felgen einwirkt und sie
zerstört.
Über die Verwendung des Fahrzeugs während des Ersten Weltkriegs
sind keine Aufzeichnungen bekannt. Danach und mit dem Ende
der deutschen Kolonialzeit verläuft sich die Spur des „Dernburg-Wagens“
– der Verbleib ist unbekannt.
Im Jahr 2006 entschließt sich DaimlerChrysler, den „Dernburg-Wagen“
als detailreiches Modell im Maßstab 1:4 nachzubauen, um
das Jubiläum des Unternehmens „100 Jahre Allrad-Personenwagen“
zu feiern. Das Modell erlebt seinen ersten großen Auftritt auf
der North American International Auto Show in Detroit im
Januar 2007.